Khalil Gibran

Teil 1

Khalil Gibran wurde 1883 in Becharré geboren, einer Stadt gelegen auf einem Felssporn im gebirgigen Norden des Libanons. Als er 12 Jahre alt war, zog er mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten nach Boston. Er besuchte 1 1/2 Jahre die amerikanische Schule. Auf sein Drängen schickte ihn die Mutter aber wieder zurück in den Libanon, wo er die berühmte Schule Al-Hikamat, "Schule der Weisheit" in Beirut besuchte und sein Abitur ablegte. Nachdem er viel in der Welt herumgereist war, ließ er sich in Paris nieder, um Malerei zu studieren und sich dem schreiben zu widmen. 1903 kehrte er nach Boston zurück, in diesem Jahr starb seine Mutter, eine von seinen Schwestern, sowie sein Bruder. Aus diesem Schmerz heraus, machte er sich daran die englische Ausgabe des Propheten zu schreiben. Die ursprüngliche Fassung davon, schrieb er bereits mir 15 Jahren in arabischer Sprache. Nachdem "Der Prophet" veröffentlicht wurde, ging er zurück nach Paris, um weiter Malerei zu studieren. 1908 arbeitete Gibran an "Der Akademie der schönen Künste" und verkehrte mit vielen berühmten Persönlichkeiten. 1910 kehrte er für immer nach Boston zurück.
Khalil Gebran starb am 10.4.1931. Er wurde wie er es sich wünschte, nach seinem Tod in den Libanon überführt und im alten Wüstenkloster Mar Sakis im Wadi Kadisha, dem "Heiligen Tal" unweit von Bacharré begraben.

Auszüge aus "Der Prophet"

Von der Liebe

...In die Welt ohne Jahreszeiten,
wo du lachen wirst,
aber nicht dein ganzes Lachen,
und weinen, aber nicht all deine Tränen.

Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von sich selbst.
Liebe besitzt nicht, noch läßt sie sich besitzen;
Denn Liebe genügt der Liebe.
Wenn du liebst, solltest du nicht sagen:
"Gott ist in meinem Herzen", sondern: "Ich bin in Gottes Herzen."
Und glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken, denn Liebe,
wenn sie dich für würdig hält, lenkt deinen Lauf.
Liebe hat keinen anderen Wunsch, als sich zu erfüllen.
Aber wenn du liebst und Wünsche haben mußt,
sollst du dir dies wünschen:
Zu schmelzen und wie ein plätschernder Bach sein,
der seine Melodie der Nacht singt.

Von den Kindern

...Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und die Töchter de Sehnsucht
des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt,
nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts
noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit seiner Macht,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
Laßt eure Bogen von er Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

Vom Geben

Es gibt jene, die von dem Vielen, das sie haben,
wenig geben - und sie geben um der Anerkennung willen,
und ihr verborgener Wunsch verdirbt ihre Gaben.
Und es gibt jene, die wenig haben und alles geben.
Das sind die, die an das Leben und die Fülle des Lebens glauben,
und ihr Beutel ist nie leer.
Es gibt jene, die Freude geben, und die Freude ist ihr Lohn.
Und es gibt jene, die Schmerzen geben,
und der Schmerz ist ihre Taufe.
Und es gibt jene, die geben und keinen Schmerz
beim Geben kennen: weder suchen sie Freude dabei,
noch geben sie um der Tugend willen;
Sie geben, wie im Tal dort drüben die Myrte ihren Duft verströmt.
Durch ihre Hände spricht Gott,
und aus ihren Augen lächelt Er auf die Erde.
Es ist gut zu geben, wenn man gebeten wird,
aber besser ist es,
wenn man ungebeten gibt, aus Verständnis.

Vom Schmerz

Euer Schmerz ist das Zerbrechen
der Schale, die euer Verstehen umschließt.
Wie der Kern der Frucht zerbrechen muß,
damit sein Herz die Sonne erblicken kann,
so müßt auch ihr Schmerz erleben.
Und könnet ihr in eurem Herzen
das Staunen über die täglichen Dinge des Lebens bewahren,
würde euch der Schmerz nicht
weniger wundersam scheinen als die Freude;
Und ihr würdet die Jahreszeiten eures Herzens hinnehmen.
wie ihr stets die Jahreszeiten hingekommen habt,
die über eure Felder streifen.
Und ihr würdet die Winter eures Kummers mit Heiterkeit überstehen...

Von der Selbsterkenntnis

Eure Herzen kennen im stillen die Geheimnisse
der Tage und Nächte.
Aber eure Ohren dürsten nach den Klängen
des Wissens eures Herzens.
Ihr wollt in Worten wissen,
was ihr in Gedanken immer gewußt habt.
Ihr wollt mit den Händen den nackten Körper
eurer Träume berühren.

Und das ist gut so.
Die verborgene Quelle eurer Seele
muß unbedingt emporsteigen
und murmelnd zum Meer fließen;
Und der Schatz eurer unendlichen Tiefen
möchte euren Augen offenbart werden.
Aber wiegt den unbekannten Schatz nicht mit Waagschalen.
Und erforscht die Tiefen eures Wissens
nicht mit dem Meßstock oder Senkschnur.
Denn das Ich ist ein Meer,
grenzenlos und unermeßlich.

Sagt nicht: "Ich habe die Wahrheit gefunden",
sondern lieber: "Ich habe eine Wahrheit gefunden."
Sagt nicht: "Ich habe den Pfad der Seele gefunden."
Sagt lieber: "Ich habe die Seele auf meinem Pfad wandelnd getroffen."
Denn die Seele wandelt auf allen Pfaden.
Die Seele wandelt nicht auf einer Linie,
noch wächst sie wie ein Schilfrohr.
Die Seele entfaltet sich wie eine Lotusblume
mit zahllosen Blättern.

Vom Lehren

Niemand kann euch etwas eröffnen,
das nicht schon im Dämmern eures Wissens schlummert...
...denn die Einsicht eines Menschen verleiht ihre Flügel keinem anderen.
Und wie jeder von euch allein in Gottes Wissen steht,
so muß jeder von euch allein in seinem Wissen von Gott
und seinem Verständnis der Erde sein.

Willst du Gott besser kennen lernen,
so beschäftige dich nicht mit dem Lösen von Rätseln.
Blicke vielmehr um dich:
Du sieht ihn mit deinen Kindern spielen.
Schau in den Raum hinaus:
Du siehst ihn durch die Wolken schreiten,
siehst, wie er in den Blitzen sine Arme breitet
und im Regen auf die Erde nieder strömt.
Du siehst ihn aud den Blumen lächlen,
siehst, wie er sich erhebt
und dir mit seinen Händen aus den Bäumen zuwinkt.


Monika Hubl-Moussa
Khalil Gibran Teil 2: Aphorismen

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